„Der Sozialismus – als die zu Ende gedachte Tyrannei der Geringsten und Dümmsten, d. h. der Oberflächlichen, Neidischen und der Drei-viertels-Schauspieler – ist in der Tat die Schlußfolgerung der »modernen Ideen« und ihres latenten Anarchismus; aber in der lauen Luft eines demokratischen Wohlbefindens erschlafft das Vermögen, zu Schlüssen oder gar zum Schluß zu kommen. Man folgt – aber man folgert nicht mehr.
Deshalb ist der Sozialismus im ganzen eine hoffnungslose säuerliche Sache: und nichts ist lustiger anzusehn als der Widerspruch zwischen den giftigen und verzweifelten Gesichtern, welche heute die Sozialisten machen – und von was für erbärmlichen gequetschten Gefühlen legt gar ihr Stil Zeugnis ab! – und dem harmlosen Lämmer-Glück ihrer Hoffnungen und Wünschbarkeiten. Dabei kann es doch an vielen Orten Europas ihrerseits zu gewaltigen Handstreichen und Überfällen kommen: dem nächsten Jahrhundert wird es hie und da gründlich im Leibe »rumoren«, und die Pariser Kommune, welche auch in Deutschland ihre Schutzredner und Fürsprecher hat, war vielleicht nur eine leichtere Unverdaulichkeit gewesen im Vergleich zu dem, was kommt.
Trotzdem wird es immer zu viel Besitzende geben, als daß der Sozialismus mehr bedeuten könnte als einen Krankheits-Anfall: und diese Besitzenden sind wie ein Mann eines Glaubens »man muß etwas besitzen, um etwas zu sein«. Dies aber ist der älteste und gesündeste aller Instinkte: ich würde hinzufügen: »man muß mehr haben wollen, als man hat, um mehr zu werden». So nämlich klingt die Lehre, welche allem, was lebt, durch das Leben selber gepredigt wird: die Moral der Entwicklung. Haben und mehr haben wollen, Wachstum mit einem Wort – das ist das Leben selber.
In der Lehre des Sozialismus versteckt sich schlecht ein »Wille zur Verneinung des Lebens«: es müssen mißratene Menschen oder Rassen sein, welche eine solche Lehre ausdenken. In der Tat, ich wünschte, es würde durch einige große Versuche bewiesen, daß in einer sozialistischen Gesellschaft das Leben sich selber verneint, sich selber die Wurzeln abschneidet. Die Erde ist groß genug und der Mensch immer noch unausgeschöpft genug, als daß mir eine derart praktische Belehrung und demonstratio ad absurdum, selbst wenn sie mit einem ungeheuren Aufwand von Menschenleben gewonnen würde, nicht wünschenswert erscheinen müßte. Immerhin, schon als unruhiger Maulwurf unter dem Boden einer in Dummheit rollenden Gesellschaft wird der Sozialismus etwas Nützliches und Heilsames sein können: er verzögert den »Frieden auf Erden« und die gänzliche Vergutmütigung des demokratischen Herdentieres, er zwingt die Europäer, Geist, nämlich List und Vorsicht übrigzubehalten, den männlichen und kriegerischen Tugenden nicht gänzlich abzuschwören – er schützt Europa einstweilen vor dem ihm drohenden marasmus femininus.“
Friedrich Nietzsche
Quellennachweis:
Friedrich Wilhelm Nietzsche
(1844 – 1900), preußischer Philologe, Philosoph, Schriftsteller und „freier Denker“.
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche
Von Gustav-Adolf Schultze (d. 1897) – Nietzsche by Walter Kaufmann,
Princeton Paperbacks, Fourth Edition. ISBN 0-691-01983-5, Gemeinfrei,
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=95963
Aus dem Werk:
Anmerkung 1:
Das Gegenteil von dem, was Friedrich Nietzsche beschreibt, begegnet uns heute auch in der Aussage: „Du wirst nichts mehr besitzen und glücklich sein“.
(Dieser Tweet wurde inzwischen gelöscht)
Anmerkung 2:
Jordan B Peterson hat marasmus femininus wie folgt interpretiert:
Nietzsche sagt in „Will to Power“ die Postmoderne/Feminisierung der Gesellschaft voraus
„Ich habe also einen Teil des Willens zur Macht gelesen und bin auf diese Passage gestoßen:
„Auf jeden Fall wird der Sozialismus, selbst als unruhiger Maulwurf unter dem Boden einer Gesellschaft, die sich in Dummheit suhlt, etwas Nützliches und Therapeutisches sein können: Er verzögert den „Frieden auf Erden“ und die totale Besänftigung des demokratischen Herdentiers; er zwingt die Europäer, Geist zu bewahren, nämlich Schlauheit und Vorsicht, den männlichen und kriegerischen Tugenden nicht ganz abzuschwören und einen Rest von Geist, von Klarheit, Nüchternheit und Geisteskälte zu bewahren – er schützt Europa vorerst vor dem Marasmus femininus, der ihm droht. “ (Wille zur Macht 125)
Im Wörterbuch wird Marasmus als Absterben des Körpers definiert.
Es ließe sich argumentieren, dass die Feminisierung, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts drohte, durch den Krieg verzögert wurde und die notwendigen Tugenden ins Spiel gebracht wurden. Zurückgeblieben sind Ursachen, die erst kürzlich von dem aufgegriffen wurden, was wir heute als liberale Eliten bezeichnen. Mit der Zerstörung der herkömmlichen Hierarchien bietet die egalitäre Lehre einer herrschenden Klasse die Möglichkeit, ihre Herrschaft zu sichern und zu festigen. Statt mit der Heiligen Schrift und der Kirche sind die Menschen von heute mit dem moralischen Imperativ für bestimmte Formen der Gleichheit konfrontiert.
In wenigen Ländern ist dieser Imperativ deutlicher als in Schweden, einer Nation, die von der Linken vergöttert und von einem Großteil der Rechten verteufelt wird, auch wenn sich dies vielleicht bald ändern wird. Unter den heutigen Bedingungen ist Schweden ein angenehmeres Modell für den linken Idealismus als die alte Sowjetunion, die es ersetzt hat. Für viele Rechte ist es ein Land, das sich ganz dem Ideal des letzten Mannes und des marasmus femininus verschrieben hat, den Nietzsche als seine eigene Antithese darstellt. Die meisten Schweden bezeichnen sich selbst nicht so, sondern halten sich für die moralischen Führer der Menschheit und sind stolz darauf, die erste feministische Regierung der Welt gewählt zu haben. In der zitierten Passage deutet Nietzsche an, dass der Sozialismus, ob er nun bekämpft oder abgelehnt wird, interessante Ideen hervorbringen kann, die zu klarem Denken und gesunden Konflikten beitragen.
Er glaubt nicht, dass der Sozialismus, wie er ihn versteht, siegen könnte, fürchtet aber offenbar, dass der Feminismus großen Schaden anrichten könnte. Mit dem Prinzip der Gleichstellung der Geschlechter wird der Inhalt kreativer Ideen zugunsten des Rechts auf gleiche Achtung derjenigen, die sie produzieren, heruntergespielt. Die Ansprüche der Produzenten haben Vorrang vor der Bedeutung des Produzierten, die als fließend betrachtet wird.“
Quellennachweis:
www.reddit.com
Nietzsche predicting postmodernism/feminization of society in Will to Power
byu/anonomya inJordanPeterson
Übersetzung und Hervorhebungen: www.skynetblog.de