„Also, es ist die Zusammenfassung, die Erkenntnis, auch aus meiner Arbeit, auch aus Ausbildung, mit Kollegen usw., dass sehr viele Menschen in ihrer Kindheit nicht so behandelt werden, also keine für sie wirklich günstigen Beziehungsangebote von den Eltern und erst recht nicht in der Fremdbetreuung bekommen, sodass es zu einer zeitlich im Leben sehr zeitig schon angelegten Entfremdung kommt.
Und Entfremdung meint, dass Menschen nicht um ihrer selbst willen erkannt und bestätigt werden und sich nicht so entfalten können, wie sie nach ihrer Anlage es könnten, sondern sie werden von Anfang an ausgerichtet auf Erwartungen. Das sind natürlich am Anfang Erwartungen der Eltern, dann der Schule und natürlich am Ende der Gesellschaft. Das heißt, fast jeder Mensch erfährt auf diese Weise eine Entfremdung in dem Sinne, dass er nicht so sein und werden kann, wie er nach seinen Möglichkeiten angelegt ist und diese Anlagen auch nicht so entfalten kann, sondern er muss werden, wie von ihm erwartet, wie er sein soll.
Und damit verliert der Mensch eben eine Orientierung für sich selbst und strebt ein Leben lang danach, dass er anderen, anfangs wie gesagt den Eltern, den Lehrern usw. gefällt und verfehlt so im Grunde genommen sein Leben.
Und da das sehr vielen Menschen so geht, also in ihrer Kindheit so behandelt werden, entsteht in der Masse, im Kollektiv, im Erwachsenenleben, eine gesellschaftliche Situation, die ich als Normopathie zusammenfasse.
Also, man muss erst mal davon ausgehen, dass die frühe Prägung, das, was Kinder in ihrer ganz frühen Lebenszeit erfahren, auch noch an Beziehungsqualität, noch bevor sie überhaupt sprechen können, das prägt eben ihre Persönlichkeit, ihrer Charakterstruktur, die sie dann als Erwachsene ausleben.
Und wenn viele Erwachsene dann in einer gleichen Richtung entfremdet sind, also angepasst und gehorsam und eine falsche Freiheit, also eine äußere Freiheit suchen, weil sie nicht genug innerlich frei sind usw., entsteht eine kollektive gesellschaftliche Fehlentwicklung, die eben als Normopathie bezeichnet werden kann.
Das meint, dass das gestörte, die Entfremdung, die gesellschaftliche Fehlentwicklung, nicht mehr als gestört erlebt wird, weil eine Mehrheit dann vergleichsweise denkt und handelt und dann sagen die Menschen: „Na ja, das machen doch alle so und wenn das die Mehrheit ist, dann kann es ja auch nicht falsch sein“.
Und so entstehen eben auch gravierende gesellschaftliche Fehlentwicklung, die ich in meinem Leben ja, also in der DDR, im real existierenden Sozialismus, erlebt habe, ein Großteil meines Lebens. Aber ich bin ja noch im dritten Reich geboren, 1943, habe also auch noch im Grunde genommen die Folgen mitbekommen. Und die Auseinandersetzung dann mit den Eltern war wichtig, über diese hochgradig pathologische Gesellschaftsentwicklung. Und heute, das, was ich als narzisstische Gesellschaft zusammenfasse, sehe ich wieder eine kollektive Fehlentwicklung, die mir Sorgen macht.“
Hans-Joachim Maaz