„Die gigantischen Katastrophen, die uns heute drohen, sind keine Elementarereignisse physikalischer oder biologischer Art, sondern psychische Ereignisse.
In ganz erschreckendem Maße werden wir von Kriegen und Revolutionen bedroht, die nichts anderes sind als psychische Epidemien. Jeden Augenblick können mehrere Millionen Menschen von einem neuen Wahnsinn befallen werden, und dann haben wir einen neuen Weltkrieg oder eine verheerende Revolution. Anstatt wilden Tieren, Erdbeben, Erdrutschen und Überschwemmungen ausgeliefert zu sein, wird der moderne Mensch von den Urgewalten
seiner eigenen Psyche geschlagen.
Dies ist die Weltmacht, die alle anderen Mächte auf der Erde, bei Weitem übertrifft.
Das Zeitalter der Aufklärung, das die Natur und die menschlichen Institutionen von Göttern befreite, hat den Gott des Schreckens übersehen, der in der menschlichen Seele wohnt. Wenn überhaupt, ist die Furcht vor Gott angesichts der überwältigenden Übermacht des Psychischen gerechtfertigt. Aber all das ist so viel Abstraktion. Jeder weiß, dass der Intellektuelle, dieser schlaue Schakal, es so oder anders ausdrücken kann, wie es ihm gefällt.
Etwas ganz anderes ist es, wenn die Psyche als objektive Tatsache, hart wie Granit und schwer wie Blei, einem Menschen als inneres Erlebnis gegenübertritt und ihn mit hörbarer Stimme anspricht und sagt: „Das ist es, was sein wird und sein muss“.
Dann fühlt er sich berufen, so wie es die Gruppe tut, wenn ein Krieg im Gange ist, oder eine Revolution, oder irgendein anderer Wahnsinn. Nicht umsonst schreit unser Zeitalter nach der „Erlöser Persönlichkeit“, nach demjenigen, der sich aus dem Griff des Kollektivs emanzipieren und wenigstens seine eigene Seele retten kann, der ein Leuchtfeuer der Hoffnung für andere entzündet und verkündet, dass hier wenigstens ein Mensch ist, dem es gelungen ist, sich aus der fatalen Identität dieser Gruppenpsychose zu befreien.
Denn die Gruppe hat aufgrund ihres Unbewusstseins keine Wahlfreiheit, und so überrollt sie die psychische Entwicklung wie eine unkontrollierte Naturgewalt. Es wird also eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die erst in der Katastrophe zum Stillstand kommt. Die Menschen sehnen sich immer dann nach einem Helden, einem Drachentöter, wenn sie die Gefahr der psychischen Kräfte spüren, daher der Schrei nach Persönlichkeit.“
C.G. Jung
Quellennachweis:
Carl Gustav Jung (1875-1961), meist kurz C. G. Jung,
war ein Schweizer Psychiater und der Begründer der analytischen Psychologie.
https://de.wikipedia.org/wiki/Carl_Gustav_Jung
Carl Gustav Jung (etwa 1935)
ETH Zürich (Bibliothek)
ETH-Bibliothek_Portr_14163
http://doi.org/10.3932/ethz-a-000046785
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Aus:
C.G. Jung – Civilization in transition (Zivilisation im Übergang)
The Collected Works of C.G. Jung | Complete Digital Edition
Volume 10 | 1970 by Princton University Press
Seite 235 + 236
engl. org.
The gigantic catastrophes that threaten us today are not elemental happenings of a physical or biological order, but psychic events. To a quite terrifying degree we are hreatened by wars and revolutions which are nothing other than psychic epidemics. At any moment several millions of human beings may be smitten with a new madness, and then we shall have another world war or devastating revolution. Instead of being at the mercy of wild beasts, earthquakes, landslides, and inundations, modern man is battered by the elemental forces of his own psyche.
This is the World Power that vastly exceeds all other powers on earth.
The Age of Enlightenment, which stripped nature and human institutions of gods, overlooked the God of Terror who dwells in the human soul. If anywhere, fear of God is justified in face of the overwhelming supremacy of the psychic. But all this is so much abstraction.
Everyone knows that the intel-lect, that clever jackanapes, can put it this way or any other way he pleases. It is a very different thing when the psyche, as an objective fact, hard as granite and heavy as lead, confronts a man as an inner experience and adresses him in an audible voice, saying, “This is what will and must be”. Then he feels himself called, just as the Group does when there’s a war on, or a revolution, or any other madness. It is not for nothing that our age cries out for the redeemer personality, for the one who can emancipate himself from the grip of the collective and save at least his own soul, who lights a beacon of hope for others, proclaiming that here is at least one man who has succeeded in extricating himself from the fatal identity with the group psyche. For the group, because of its unconsciousness, has no freedom of choice, and so psychic activity runs on it like an uncontrolled force of nature. There is thus set going a chain reaction that comes to a stop only in catastrophe. The people always long for a hero, a slayer of dragons, when they feel the danger of psychic forces, hence the cry for personality.
Hervorhebungen: skynetblog.de
Übersetzung und Transkript: skynetblog.de
Webseiten zuletzt abgerufen am: 27.04.2021