Von Politikverdrossenheit wird viel gesprochen und geschrieben. Aber was ist Politikverdrossenheit? Der Begriff ist nicht eindeutig definiert. Dadurch lassen sich Aussagen wie: “Die Politikverdrossenheit steigt weiter an.” bei einem zweiten Blick nicht belegen. Politikverdrossenheit ist auch nicht das Gegenteil von politischem Interesse. (Teil 4).
Um den Begriff Politikverdrossenheit besser einordnen zu können, möchte ich hier auf den Artikel “Politikverdrossenheit” (5 Seiten) von Prof. Dr. Klaus Christoph hinweisen.
Und auf das Buch “Politikverdrossenheit – Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffes” von dem Politikwissenschaftler Prof. Dr. Kai Arzheimer, dass als PDF (351 Seiten) heruntergeladen werden kann.
“Der Begriff “Politikverdrossenheit” besagt als solcher also nicht nur wenig, sondern lockt auch auf manchen Holzweg.”
(Klaus Christoph, 2012, Seite 2)
Im Zusammenhang sichtbar
Die Politikverdrossenheit ist ein Sammelbecken für Begriffe geworden. Dieser kann verschiedene Attribute beinhalten, die oft unter diesem Begriff zusammengefasst werden. Dabei wird besonders in der Berichterstattung über das Thema Politikverdrossenheit die Definition des Begriffs in den Medien vernachlässigt.
Oft wird das Wort Politikverdrossenheit erst im jeweiligen Kontext mit Attributen versehen. Wird dieser Kontext (z. B. eine konkrete Frage) weggelassen, ist für den Betrachter dann der Zusammenhang nicht mehr zu erkennen und das Wort kann in folge dessen mit einem neuen Attribut Charakterisiert und verwendet werden.
“die Politiker”, “die Parteien”, “das politische System” – oder alles zusammen?
Verschiedene Attribute werden mit Politikverdrossenheit assoziiert. Verwendet wird das Wort häufig als Sammelbegriff für eine ablehnende oder kritische Haltung gegenüber:
- Politikern(verdrossenheit),
- Parteien(verdrossenheit),
- politische Prozesse oder Entscheidungen
- Demokratie(verdrossenheit) im allgemeinen (politisches System).
Möglich ist auch eine Kombination der Faktoren.
Ein Beispiel für Politikverdrossenheit in der Medienberichterstattung
Der Stern veröffentlichte am 04.05.2011 einen Artikel über eine Umfrage mit der Überschrift: “Vertrauen in die Politik schrumpft rapide“. Dann folgte im ersten Satz der Hinweis auf eine Politikverdrossenheit. Und schon im zweiten Satz ging es um Politiker und Parteien.
Vertrauen in die Politik schrumpft rapide
Die Politikverdrossenheit ist so hoch wie nie. Eine stern-Umfrage kommt zu desaströsen Ergebnissen für Politiker und Parteien: Mehr als drei Viertel der Befragten finden sie sprunghaft und unberechenbar. Wer meint, dass Politiker ihren Job gut machen, ist in der Minderheit.
Quelle: www.stern.de | 04.05.2011 | Umfrage
Hier wird das Wort Politikverdrossenheit als Synonym für Politik-, Politiker- und Parteienverdrossenheit verwendet, bzw. für alle drei Komponenten zusammen. Es geht auch im weiteren Text um die “Unzufriedenheit” mit “Politiker und Parteien” (sind auf eigenen Vorteil bedacht, sind überfordert, machen ihre Arbeit “im Großen und Ganzen” eher nicht gut). Auch Emotionen (Frustration und Unzufriedenheit) werden hinzugefügt.
Definition I. (wikipedia)
Politikverdrossenheit, auch Politikmüdigkeit, bezeichnet eine negative Einstellung der Bürger in Bezug auf politische Aktivitäten und Strukturen, die sich unter Umständen in Desinteresse an und Ablehnung von Politik, ihrer Institutionen und politischem Handeln äußert. Diese Haltung kann generell die ganze politische Ordnung betreffen oder sich nur auf Ergebnisse politischer Prozesse beziehen.
Quelle: www.wikipedia.org/politikverdrossenheit
Prof. Dr. Klaus Christoph merkt in seinem Text über Politikverdrossenheit an, dass diese Definition “repräsentativ”, aber auch “unbefriedigend” sei.
Zu der oft unzureichenden Definition von Politik in Politikverdrossenheit, kommt noch die mangelnde Erklärung, was mit der Verdrossenheit gemeint sein könnte.
Verdrossenheit könnte umgangssprachlich mit Frustration übersetzt werden.
Politik – Verdrossenheit wäre demnach Ausdruck für eine Enttäuschung einer Erwartung in Bezug auf Regelungen der Angelegenheiten unseres Gemeinwesens.
Aber so einfach ist es leider nicht.
In der Verdrossenheit kommt oft noch eine emotionale Komponente hinzu, wie z.B. Unzufriedenheit, Enttäuschung oder Frustration. Auch Wut oder Zorn könnten Teil einer Verdrossenheit sein, die sich auch aus mehreren emotionalen Faktoren zusammensetzen kann.
Das Wort “Wutbürger“ zeigt auch auf diesen Trend. Eine emotionale Komponente erschwert die Debatte um sachliche Argumente. Es geht hierbei auch um Ängste, auch existenzielle. Abstellen lassen sich diese Emotionen nicht. Dabei ist es nicht zwangsläufig relevant, ob diese Ängste berechtigt sind.
Berechtigte Kritik
Es gibt natürlich berechtigte Kritik an Parteien und einzelnen Politikern. Der Berliner Flughafen (BER), die Elbphilharmonie, oder der Plan die deutschen Autobahnen zu privatisieren.
Und es gibt das sichtbare Verlangen der Politik, mit dem eigenen Versagen nichts zu tun haben zu wollen. Es geht herbei nicht um Irrtümer, sondern um falsche Entscheidungen von Parteien und Politikern, die die Konsequenzen ihrer Handlungen übernehmen müssten, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden. Das machen sie aber oft nicht. In diesem Kontext muss die sogenannte Politikverdrossenheit immer auch gesehen werden. Es gibt nicht nur eine emotionale Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien, sondern auch eine Kritik, die auf einer sachlichen oder juristischen Ebene vorgebracht wird.
Wer also sagt, Wutbürger seinen nur emotional aufgeladene Demonstranten, mit deren Thesen sich niemand auseinander zu setzen braucht, verschweigt damit die Gründe für den Protest, die durchaus berechtigt und wichtig sein können.
Während die einen vielleicht noch an einer Debatte über ein Bauvorhaben interessiert sind, fangen die anderen schonmal an, dass Haus zu Bauen und schaffen so Tatsachen. Diese Ungleichheit kann durchaus zu Frustration führen, die berechtigt sein kann.
Definition II.
Betrachten wir einzelne Umfragen und Fragestellungen, werden konkrete Ergebnisse sichtbar. “Welt Online” schrieb am 17.06.2011 über das Vertrauen zu Politikern:
Während europaweit 17 Prozent der Befragten angeben, ihren Politikern zu vertrauen, äußern sich hierzulande gerade einmal neun Prozent derart positiv. Noch im Vorjahr hatten immerhin 14 Prozent der Deutschen der politischen Garde Vertrauenswürdigkeit bescheinigt. Die Umfrage unter rund 19.000 Menschen in insgesamt 15 europäischen Ländern liegt “Welt Online” vor.
Quelle: www.welt.de | 17.06.2011 | Ileana Grabitz | Image der Politiker sinkt
“Die Unruhe in der Bevölkerung ist mit Händen zu greifen”
Die aktuelle Forsa-Umfrage fördert alarmierende Zahlen zutage: 62 Prozent der Bevölkerung trauen den Parteien nicht mehr zu, die Probleme in Deutschland lösen zu können.
Quelle: www.t-online.de | 27.01.2016 | Alexander Graßhoff
Hier lassen sich zwar Trends erkennen, die ihrerseits aber keinen Rückschluss auf eine Politikverdrossenheit als homogenen Begriff zulassen.
Diese Umfragen zeigen ein fehlendes Vertrauen der Befragten gegenüber Politikern (9% der Befragten gaben an, ihren Politikern zu vertrauen) und Parteien (62% trauen den Parteien nicht mehr zu, die Probleme in Deutschland zu lösen). Auf einem Vertrauensmangel an dem politischen System im allgemeinen oder eine Politikverdrossenheit deutet dies nicht hin. Und Prof. Dr. Klaus Christoph schreibt, dass “das deutliche Votum für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden, die 80 Prozent der Befragten befürworteten”, ein deutlicher Hinweis auf den zweideutigen Charakter von “Politikverdrossenheit” sei (Christoph, 2012, Seite 3).
Zwei Drittel (66 Prozent) der Deutschen wünschen sich mehr Volksabstimmungen und andere direkte Beteiligungsformen. Das ist das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage von Infratest dimap.
Quelle: www.herbert-quandt-stiftung.de | 2013
Pressemeldung: Infratest-Umfrage
Quelle: www.herbert-quandt-stiftung.de | 2013 | Pressemeldung: Infratest-Umfrage
“Politikverdrossenheit”
Als Fazit ist festzuhalten: Der nach wie vor überaus populäre Begriff “Politikverdrossenheit” enthält ein wahres Moment, indem er ein (offenbar gewachsenes) Unbehagen gegenüber bestimmten Entwicklungen in Politik und Gesellschaft ausdrückt. Indessen ist seine heuristische Kraft außerordentlich begrenzt. Insofern kann man sich getrost Kai Arzheimer anschließen, der penibel die wissenschaftliche Literatur der 1980er- und 90er-Jahre durchgesehen hat und zu dem Schluss kommt, dass “sowohl aus analytischer wie aus empirischer Sicht … nichts dafür spricht, am Verdrossenheitsbegriff festzuhalten.”
(Klaus Christoph, 2012, Seite 5)
Im nächsten Teil geht es um politisch motivierte Kriminalität. Eine Unzufriedenheit mit dem politischen System kann hier unterstellt werden, politisches Desinteresse aber nicht.
Quellenhinweise:
Kai Arzheimer
Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffes.
Wiesbaden, Westdeutscher Verlag 2002
Taschenbuch: 355 Seiten
Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften; Auflage: 1. Aufl. (28. Juni 2002)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3531137972
ISBN-13: 978-3531137971
Das Buch ist im Handel nur noch gebraucht erhältlich;
der vollständige Text kann deshalb hier heruntergeladen werden (PDF)
Klaus Christoph
Politikverdrossenheit
in: Deutschland Archiv 1/2012, S.127-135
Quelle: www.bpb.de | 06.01.2012 | Politikverdrossenheit
Manfred Güllner
Nichtwähler in Deutschland
Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin 2013
ISBN: 978-3-86498-530-0
Infratest dimap (Grafik)
Pressemeldung: Infratest-Umfrage | 2013 | www.herbert-quandt-stiftung.de
Ein Überblick über die bisherigen Beiträge zum Thema politische Partizipation:
Neue Formen der politischen Partizipation (Teil 8.3)
Neue Formen der politischen Partizipation (Teil 8.2) Ursache und Wirkung
Neue Formen der politischen Partizipation (Teil 8.1) Rückblick
Politische Partizipation (Teil 7) – Gestern und Heute
Wahlbeteiligung, Wähler und Nichtwähler. (Teil 6.2) Nichtwähler
Wahlbeteiligung, Wähler und Nichtwähler. (Teil 6.1) Wähler
Politisch motivierte Kriminalität (PMK) (Teil 5)
Politikverdrossenheit in Deutschland (Teil 4)
Steffen Schmidt – Politisches Interesse (bpb.de) (Teil 3)
Ergänzung zur Studie über Parteimitgliedschaften (Teil 2)
[Studie] Niedermayer – Parteimitglieder 2015 (Teil 1)