Alexander Wendt über identitätspolitische Stammeskulturen und Rituale [Zitat]

„Es ergab sich also schon vor ihrer Flut- und SMS-Affäre das Bild einer Politikerin
[Anne Spiegel, Anmerk.], die es für naheliegend hielt, ihr Ministerium zu einem Vorposten ihrer Partei auszubauen, so, wie sie auch in Themenwahl und Wording immer darauf achtete, zuallererst das eigene Milieu zu bedienen. Schon vor ihrem Amtsantritt in Berlin erklärte sie es zu ihrem wichtigen Anliegen, eine einheitliche Gendersprache in allen Gesetzestexten und Erklärungen der Ampelkoalition durchzusetzen.

Außerhalb einer urbanen grünenaffinen Schicht hält das zwar niemand für eine drängende gesellschaftliche Frage. In den Vierteln mit 25 Prozent Grünenwählerschaft und mehr beschäftigen sich tatsächlich sehr viele mit dem gerechten Schreiben und Sprechen. Überhaupt lässt sich mit einer Art Sozialethnologie überhaupt erst verstehen, warum so viele, ja eigentlich fast alle Grünenpolitiker sich so obsessiv Gegenständen widmen, für die es außerhalb sehr enger Milieugrenzen kein Interesse und oft noch nicht einmal den nötigen Begriffsapparat gibt. Das gilt für Spiegels gegenderte Gesetzestexte und Pressemitteilungen genauso wie für Annalena Baerbocks Wasserstoffdiplomatie und Ricarda Langs Body Positivity bis zur Forderung Katrin Göring-Eckardts nach einer Parlamentspoetin. Draußen mag so etwas als Orchideenthema gelten. Drinnen erfüllt es die Funktion eines gemeinschaftsstiftenden Rituals, dem sich bei Strafe der Nichtwiederaufstellung bei der nächsten Wahl niemand entziehen kann.

Politiker, die mit Hilfe der zentralurbanen Wähler aufsteigen wollen, müssen sich zwingend auf zwei Teilgesellschaften konzentrieren, in denen radikal andere Regeln gelten als im restlichen Land. Zum einen ist das die Partei, die diese Wählerschaft bedient, vor allem aber über die entscheidenden Listenplätze bestimmt. Die Grünen lassen sich am ehesten als straff organisierte Stammeskultur beschreiben, in der alles von der Zugehörigkeit zu einem Fügel, einem Geschlecht, einem lokalen Netzwerk und außerdem von der nötigen Medienaffinität abhängt. ‚Straff‘ meint vor allem: Neben der Zugehörigkeit sind auch noch bestimmte Rituale streng zu beachten und bestimmte Regelverstöße, selbst kleine, strikt zu vermeiden.

Die Glaubensgemeinschaft verzeiht es der einen grünen Politikerin großzügig, dass sie zum Ausstieg aus der fossilen Energie aufruft, aber privat zum Eisessen nach Kalifornien düst, sie vergibt einen Hochstaplerlebenslauf, sieht das private Hummeressen einer Hamburger Justizsenatorin auf Malta und auf Steuerzahlerkosten grundsätzlich entspannt, und fordert aus den eigenen Kreisen auch nicht die Demission einer Ministerin, die in einer Hochwassernacht einfach abtaucht. Aber das kulturell aneignende Trigger-Wort ‚Indianerhäuptling‘ hätte die Berliner Spitzengrüne Bettina Jarasch parteiintern fast aus der Kurve getragen.

Mindestens genauso überlebenswichtig wie die Zufriedenstellung der eigenen Parteigremien ist die Konzentration auf den anderen entscheidenden Pol: die wohlmeinenden Medien. Auch dort unterscheiden sich Rituale, Sprachregelungen, Themensetzungen und Karrierewege nachhaltig von dem Rest des Landes. Beide Bereiche, grünes Parteigeflecht und Berliner Medienbetrieb, folgen also jeweils sehr stark eigenen Regeln. Aber beide Terrains gleichen einander sehr. Auch für viele Hauptstadtjournalisten spielen wiederum zwei Bezugspunkte die wichtigste Rolle: zum einen Journalisten und zum anderen großstädtisch-progressive Freunde und Bekannte, die sogenannte Peer Group, deren Lob und Tadel einem Redakteur im Zweifel wichtiger ist als die Auflage des eigenen Blattes. Angesichts der Auflagenentwicklung richtet sich der Blick vieler Medienschaffender außerdem auf den Apparat von Politik und Organisationen, die sicher finanzierte Sprecher- und Beraterpositionen zu vergeben haben.“

Alexander Wendt

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[Zitat] Douglas Murray über das Verschwinden von privater Kommunikation

„(…) Einen Aspekt beschreibe ich in meinem Buch „Wahnsinn der Massen“ und zwar das Verschwinden von privater und öffentlicher Rede. Jetzt ist jede Rede immer und jederzeit potentiell für die ganze Welt. Unser ganzes Leben lang konnten wir, bis vor etwa zwei Jahren, noch zwischen privater und öffentlicher Kommunikation unterscheiden. Ein Zeitungsartikel zum Beispiel war öffentliche Kommunikation und eine Unterhaltung mit einem Freund eine private. Aber das Aufkommen der sozialen Medien hat das beschädigt, so dass jetzt eine vielleicht missglückte private Konversation eine Sache öffentlichen Interesses werden kann, sogar dann, wenn man eigentlich keine öffentliche Person ist.

Das ist eine sehr wichtige Veränderung für unsere Spezies in Sachen Kommunikation. Es bedeutet, dass Leute, die sich dessen sehr bewusst sind, besonders junge Leute, mittlerweile immer versuchen, so zu sprechen wie es ihrer Vorstellung nach von allen akzeptiert werden kann.

In diesem Kommunikationsprozess versuchen sie, ihrer Rede einen universellen Aspekt zu geben, der in Antirassismus, Antisexismus, Antihomophobie und vielem mehr besteht. Das basiert aber nicht auf Vereinbarungen. Das Ganze bleibt hochgradig widersprüchlich, sogar in sich selbst. Und es beruht auf einer unfassbar dürftigen Denkweise, die sich seit den späten siebziger Jahren in einem Teil der amerikanischen Universitäten herausgebildet hat und unter dem hässlichen Begriff Intersektionalismus firmiert. Dieser Intersektionalismus hat einiges zur Verfügung gestellt, auf das sich die modernen „Woke“-Aktivisten berufen.

Ich sollte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass eine ganze Reihe von Denkrichtungen eingeflossen sind. Eine davon ist eine Form des Vulgärmarxismus, besonders die Vorstellung, dass ein sinnvolles Leben aus zahllosen, endlosen Kämpfen gegen Unholde bestehen sollte, Unholde, die tatsächlich existieren, die aber in ihrer Bedeutung übertrieben werden müssen, um sich selbst als tapferer Krieger gegen sie präsentieren zu können.“

Douglas Murray

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